Vom 15. - 17. August 2005 besuchte auf Einladung des Droemer-Knaur-Verlages die tibetische Sängerin und Autorin Soname Yangchen Hamburg, um auf einer Pressekonferenz ihr Buch "Wolkenkind" vorzustellen. Die TID-Gruppe Hamburg konnte mit ihr ein Interview führen, das an dieser Stelle in zwei Teilen veröffentlicht wird. Soname Yangchen weihte mit uns eine große Plakatwand in Hamburg-Eppendorf über den von der chinesischen Regierung entführten und mit seiner Familie vor der Weltöffentlichkeit versteckt gehaltenen Panchen Lama ein. Sie traf sich anschließend mit der Hamburger Gruppe und trug im Kulturhaus Eppendorf einige Lieder vor.
TID Hamburg: Sie haben ein Buch geschrieben "Child of Tibet". Es wird am 22. September in diesem Jahr im Droemer-Knaur-Verlag in München mit dem sehr deutsch klingenden Titel "Wolkenkind" erscheinen. In diesem Buch beschreiben Sie in einer fast atemberaubenden Weise ihr Lebensschicksal, das für einen westlichen Leser als erschütternd bezeichnet werden kann.
Mit 6 Jahren wurden Sie von Ihren Eltern nach Lhasa zu Verwandten geschickt, um Ihnen eine spätere Ausbildung zu ermöglichen. In Ihrem Buch ist das Kapitel über ihr Leben in Lhasa mit "Sklaverei" überschrieben. Können Sie erläutern, wie Sie dort ein ganzes Jahrzehnt als Kind gelebt haben und wie Sie diese Zeit überstanden haben? Was prägte Sie in diesen für Sie langen zehn Jahren?
Soname Yangchen: Eltern wünschen immer das Beste für ihre Kinder. Ich wollte das befolgen, was sie sagten. Wir waren eine adlige Familie. Öffentlich waren wirdeshalb nicht sehr angesehen. Wir waren sehr arm. Und meine Eltern wollten, daß wir weggehen, weil ich sonst vielleicht vergewaltigt worden wäre. Dann hätte ich ein Kind bekommen und das Kind wäre ein Bastard geworden. Es hätte dann keine Lebensmöglichkeiten gehabt. Sie meinten, daß es besser wäre, wenn ich nach Lhasa ginge. In Lhasa konnte ich mich noch nicht einmal selber anziehen. Bis dahin hatte meine Mutter alles für mich getan. Wenn man in einer fremden Familie ist, dann muß man alles selber machen können. Ich hatte dann aber keine Kindheit mehr. In der neuen Familie war ich die Dienerin, ich mußte die Betten machen und aufräumen. Ich hatte keine emotionale Beziehung zu der fremden Familie. Wie sollte das auch gehen? Sie haben nur gesagt, was ich zu tun und zu lassen hatte. Meine beste Freundin lernte ich beim Wasserholen kennen. Die Nachbarn hatten auch Kinder vom Lande. Das war so üblich. Ich habe meine Eltern sehr vermißt und viel geweint. Ich hatte auch die ganze Zeit keinen Kontakt zu ihnen.
TID Hamburg: Ihre Eltern wollten Sie ja wieder zurückholen. Warum kam es doch nicht dazu?
Soname Yangchen: Als ich ungefähr 11/12 Jahre alt war, kamen meine Eltern und wollten mich wieder zurückholen, aber die Familie sagte, ich sei eine sehr gute Haushaltshilfe. "Tun sie das lieber nicht. Sie kriegt hier auch eine städtische Identitätskarte". In Lhasa mußte man immer eine Identitätskarte haben. Das ist besser, als wenn ich eine ländliche Identitäskartet hätte. Sie sagten auch, daß sie sich weiterhin um mich kümmern und für meine Fortbildung sorgen würden. Sie sagten ebenso, daß ich lesen und schreiben lernen sollte, aber sie gaben mir keine Möglichkeit, es zu lernen.
TID-Hamburg: Waren die Aussagen der Familie nur Versprechungen, um sie als billige Arbeitskraft zu behalten?
Soname Yangchen: Es war zwar ehrlich gemeint, aber es gab ja keine Lehrer. Wie sollte ich lesen und schreiben lernen. Sie wollten nur, daß ich für sie arbeite. Ich hatte gar keine Zeit zu lernen. Mit 11 ist man in Tibet auch zu alt, um zur Schule zu gehen. Als ich in den Westen kam, stellte ich fest, daß dort auch Leute mit 30 und 40 Jahren noch zur Schule gehen können, aber in Tibet war das nicht möglich.
TID-Hamburg: Wie alt waren sie, als sie Ihre erste Flucht wagten, um zu ihrer Familie zurückzukehren?
Soname Yangchen: Ich glaube, 12 oder 13 Jahre alt.
TID-Hamburg: Wie weit ist das Yarlungtal von Lhasa entfernt? Wie lange haben Sie für den Rückweg gebraucht?
Soname Yangchen: Mit dem Bus waren es 10 Stunden. Dann muß man noch einmal in einen anderen Bus steigen. Und das dauert noch einmal zwei Stunden.
TID-Hamburg: Wie viele Tage haben Sie dazu gebraucht?
Soname Yangchen: Zwei bis drei Tage. Denn ich bin ja über die Felder gelaufen, die auch schlammig waren. Wenn ich in der Nacht auf den Feldern irgendwelche Behältnisse fand, dann bin ich dort hineingekrochen, um dort zu schlafen.
TID-Hamburg: Ihr erster Versuch einer Flucht führte Sie zu den Eltern im Yarlungtal. Sie mußten dann aber nach Lhasa zurück und damit in für Sie entwürdigende Lebensverhältnisse, die Sie mit Sklaverei beschreiben. Was führte zu dieser Rückkehr?
Soname Yangchen: Nach einigen Monaten kam jemand in einer Polizeiuniform und mit einem Yeep, um mich abzuholen, und ich war so glücklich bei meiner Familie. Ich genoß die Freiheit, draußen zu sein. Ich wollte so gerne bei meiner Mutter und bei meiner Großmutter bleiben, aber der Mann sagte, sie (die neue Familie) würde mich vermissen, aber sie haben mich nicht wirklich vermißt, sie haben nur meine Arbeit vermißt und er hat gesagt, ich müsse unbedingt wieder mitkommen Die ganze Dorfbevölkerung dachte, ich hätte etwas bei der Familie gestohlen. Sie kennen das nicht, das jemand von der Polizei kommt. Die Familie würde dafür sorgen, daß ich eine gute Stelle bekomme. Sie vermissen Dich, sie lieben Dich. Komm wieder zurück. Er hatte auch Süßigkeiten und Kleider mitgebracht, zum Beweis dafür, daß die Familie mich eben vermisse. Und schließlich hat meine Mutter gesagt: Geh wieder mit, denn sie hat an meine Zukunft gedacht.
TID-Hamburg: In dem Kapitel "Himmelsbegräbnis" schreiben Sie in bewegten Worten von dem Tod Ihrer Mutter. Können Sie sagen, was Ihre Mutter für Sie damals war und vielleicht auch noch heute bedeutet? Was veränderte sich nach dem Tod der Mutter?
Soname Yangchen: : Ich hatte eine sehr gute Beziehung zu meiner Mutter, aber die Mutter wurde sehr krank und dann hat die Familie mich auch zurückkehren lassen. Ich habe meine Mutter dann etwa vier Wochen bis zu ihrem Tode gepflegt. Ich kehrte dann nach Lhasa zurück, aber ich war nicht mehr die gleiche. Ich hatte mich verändert. Eigentlich geht man nach Lhasa, um zu heiraten, um eine Familie zu haben und nicht in einer Familie zu arbeiten. Die fremde Familie sagte immer, was ich zu tun hätte. Ich gehörte weder zur Dorfbevölkerung noch zur Stadtbevölkerung. Normalerweise hat jeder, der auf dem Lande lebt, einen gewissen Teil Land, aber ich gehörte nicht mehr dazu, also bekam ich auch kein Land mehr und konnte deshalb dort nicht leben, aber in der Stadt hieß es, ich gehöre aufs Land. Ich konnte also nirgendwo hin. Ich hatte nirgendwo einen Platz. Es hätte auch niemand mehr auf dem Land für mich etwas bezahlt, ich hatte auch meine gesammelten Erfahrungen, wie man das Land bearbeitet, in der Stadt vergessen. Ich habe mich keiner Gruppe mehr zugehörig gefühlt und außerdem hörte ich von Seiner Heiligkeit, daß es in Indien Schulen gäbe. Es kamen Mönche aus Indien, die erzählten, daß der Dalai Lama Schulen für Kinder eröffnet hätte. Und ich hoffte, dort etwas zu lernen.
TID-Hamburg: In Ihrem Buch wird deutlich , mit welch heißem Herzen Sie das Schicksal Tibets, also Ihres Volkes in einzelnen wichtigen Momentaufnahmen beleuchten. Der erste Einmarsch der fanatischen Rotgardisten, die Zerstörung Ihrer unmittelbaren Heimat und Ihrer Familie. Sie beschreiben den Besuch des Panchen Lama, seine kritische Haltung gegenüber der chinesischen Besatzungsmacht. 1987 gab es die ersten Unruhen in Lhasa, von der Sie einige Beobachtungen mitteilen. Können Sie weitere Momentaufnahmen und die chinesische Reaktion darauf schildern? Zeigte das chinesische Militär, die Regierung der Autonomen Region Tibets und deren Verwaltung seitdem ein anderes Verhalten?
Soname Yangchen: Es kam alles zusammen. Meine Mutter starb. Es war sehr viel Militär in Lhasa. Die Leute wurden verhaftet. Ich hatte das Gefühl, es gibt überhaupt kein Leben mehr. Alle werden gefangengenommen. In der Zeit wurden sehr viele Menschen verhaftet, und wir fragten, warum uns die Behörden sagten, sie haben gestohlen und sie haben Freiheit gefordert und wir fragten, was ist Freiheit. Allerdings war es so, daß die Eltern mit uns Kindern nie über irgendetwas Vergleichbares gesprochen haben, denn die Kinder hätten das ja erzählen können. Alle Leute hatten Angst und sie redeten mit den Kindern nicht über solche Dinge. Wir wußten also nicht, was Freiheit ist und es wurden ständig viele solcher Leute verhaftet und die Eltern hätten riskiert verhaftet zu werden.
TID-Hamburg: Sie schreiben, daß Sie in Tibet keine Zukunft für sich sahen? Diese Sichtweise setzt ja einen Horizont voraus, den Sie eigentlich aufgrund ihrer ungenügenden Bildung nicht haben konnten. Worauf führen Sie Ihre Erkenntnis zurück?
Soname Yangchen: Ich wußte davon, denn die Kinder der Familie, die waren so alt wie ich und gingen in die Schule, und ich habe mir überlegt, wie ist das denn, wenn sie in die Schule gehen und kriegen dann später einen Job. Wie soll das denn bei mir gehen? Ich war immer im Haushalt. Wie kann ich denn einen Job bekommen? Sie haben gedacht, es wäre genug, wenn sie mir eine Identität für die Stadt verschafften. Ich könnte im Haushalt arbeiten und dann würde man für mich auch einen Ehemann finden, aber sie haben keinen gefunden, und ich habe immer nur den Haushalt gemacht.
TID-Hamburg: Im Oktober 1989 begaben Sie sich auf die große Flucht nach Nepal. Welche Gründe trieben Sie zur Flucht an? Was befähigte Sie zu dieser Flucht in mangelhafter Bekleidung, ungenügender Verpflegung und sonstiger fehlender Ausrüstung?
Soname Yangchen: : Ich muß allerdings sagen: In der Zeit, die ich bei der Familie verbrachte, habe ich sehr viel gelitten. Es hat mir andererseits auch Kraft gegeben, Widerstandskraft. Die Erfahrung, die ich da gemacht habe, hat mich zum Leben befähigt, auch nachher und später. Jetzt lebe ich z.B. in England, in Europa, in Deutschland, ich fordere die ganze Welt heraus, ich fürchte nichts, ich habe keine Ängste. Ich weiß, wo ich bin. Ich bin in Deutschland, ich bin in England.
TID-Hamburg: Einen ersten großen Schnitt gibt es in Ihrem Buch mit dem Kapitel "Ein erster Hauch von Freiheit". Was meinen Sie damit?
Soname Yangchen: Für mich ist Freiheit etwas anderes. Die westliche Freiheit ist ein anderes Denken. Für mich ist Freiheit, mich ausdrücken zu können, sagen zu können, was ich denke. Mit meinen Erfahrungen weiß ich, daß Freiheit auch bedeutet, anderen Menschen zu helfen. Man kann lernen, etwas für andere zu tun, man kann in den Kosovo gehen, etwas für Afrika tun, man kann sich jede Sekunde neu entscheiden, etwas zu tun. Und man kann wirklich helfen, und ich sehe, wie groß die Möglichkeiten sind. In Asien ist es etwas anders. Wenn man bei uns heiraten will, dann kommt die Familie zusammen, dann wird überlegt. Man kann nicht unbedingt den Mann heiraten, den man möchte. Ich habe jetzt die Möglichkeit, in der Freiheit etwas zu tun und auch zu heiraten, wen ich will. Das ist ein großer Unterschied.
TID-Hamburg: Mich berühren in diesem Kapitel "Ein erster Hauch von Freiheit" Ihre letzten Sätze: "Aber was immer man sich wünscht, wenn es das Karma nicht vorsieht, wird es nicht geschehen, egal ob man reich oder arm ist. Es gab irgendeinen tieferen Grund dafür, daß unsere Beziehung so kurz war, daß wir uns trennen mußten, auch wenn ich nicht wußte, was dieser Grund war. So stellen sich die Dinge dem spirituellen Denken dar, ... ." Sind es Schlüsselsätze, die für Ihre Sicht des Lebens bestimmend sind?
Soname Yangchen: Ja, das ist schon ein Schlüsselwort, es ist für mich da gewesen, als mein erster Mann, der Vater meiner Tochter, nach New York gehen wollte. Ich wollte ihn nicht zurückhalten. Ich sagte ihm, wenn Du in New York eine bessere Frau findest, als mich, dann lebe mir ihr zusammen. Vergiß mich. Das ist auch heute noch meine Haltung, egal, wo der Mensch herkommt. Wenn ich mit einem Mann zusammen lebe, und er kommt nachts nach Hause, dann sage ich nicht, wo kommst Du her, sondern das Wichtige, was ich frage ist: Bist Du zufrieden? Und ich mache ihm dann keine Vorwürfe. Ich habe erlebt, was gefangen sein heißt, und ich weiß, wie wichtig Freiheit ist. Ich halte das für wichtiger als alles andere. Ich meine, daß man nur dann die Freiheit hat, wenn man dem anderen die Freiheit läßt
TID-Hamburg: Sie geben auch für einen westlichen Leser einen sehr großen Blick frei auf Ihr Leben, schreiben von mißratenen Beziehungen, sich entwickelnden Skandalen, kurz von einer Art Abwärtsspirale, die kulminiert in der nicht zu leistenden Fürsorge für Ihr Kind, das Sie ja mit 17 Jahren bekommen hatten. Was geschah mit Ihrem Kind? Wie hielten Sie die Trennung aus?
Soname Yangchen: Es ist so, man trifft sich, man trennt sich. Ich werde in England bleiben. Ich muß mich auch um mein Kind kümmern und sehe auch, daß ich Steuern zahlen muß und auch für meine Rente vorsorgen. Er ist der beste Mann gewesen, den ich gehabt habe. Er ist Vater, Bruder, alles für mich, aber ich weiß nicht, ich muß immer damit rechnen, daß er sich wieder trennt und ich habe einen Koffer, ich habe nie Geld von meinem Mann genommen. Ich habe einen Koffer, damit kann ich gehen und das ist das Wichtigste. Ich kann für mich selber sorgen
TID-Hamburg: Ich möchte einen Blick zurückwerfen. In Delhi änderten sich für Sie die Umstände. Sie erhielten Zugang zur Oberschicht. Was änderte sich konkret? Gab es nunmehr andere Sichtweisen, die auch als eine Erweiterung Ihres Horizontes zu werten sind?
Soname Yangchen: Als ich nach Delhi kam, wußte ich noch nicht einmal, wie man über die Straße geht. Furchtbar, ich hatte das alles noch zu lernen. Ich traf eine Frau - das war wohl wieder das Karma - die nahm mich mit nach Hause. Sie führte mich in die Oberschicht ein. Ich lernte eine ganz Menge: Ich lernte wie man sich bei Tisch benimmt, wie man Tee trinkt, wie man mit Messer und Gabel umgeht. In Tibet ist das alles ganz anders. Man ist immer nach vorne gebeugt und drückt vor allem seine Hochachtung aus und noch heute sage ich in England immer noch Bitte vor Auf Wiedersehen. Die Leute fragen mich warum, ich versuchte ihnen zu erklären, daß es im Tibetischen ganz anders ist, daß man immer sehr viel mehr seinen Respekt vor dem Anderen ausdrückt. Ich lernte dann in Indien, in New Delhi, daß die Leute sehr viel freier waren, daß man gerade sitzt, daß man auch nett und freundlich sein kann, wenn man sich nicht verbeugt, daß das auch eine höfliche Haltung ist. Die indische Oberschicht ist doch sehr verwestlicht.
TID-Hamburg: In Delhi lernten Sie auch erstmalig Menschen aus dem Westen kennen. Was faszinierte Sie an Ihnen?
Soname Yangchen: : Ich traf Alfred Röver, der von einem anderen Deutschen eingeführt wurde, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnere. Sie luden mich in ihr Hotel ein. Da gab es einen Swimming Pool, ich wollte nun auch schwimmen, aber ich hatte keinen Badeanzug. Also hat Herr Röver einen Badeanzug für mich besorgt und ich bin dann auch ins Wasser gegangen, aber ich konnte ja nicht schwimmen. Es wurde dann plötzlich tief und ich verlor den Boden unter den Füßen, Dann hat Herr Röver mich aus dem Wasser holen wollen, aber ich sah dann nur seinen Hut, ich dachte er wäre untergegangen
Zweiter Teil des Interviews folgt.
Interview: Helmut Steckel, Übersetzung: Angelika Mensching
|