Tibet – Zerstörung einer Hochkultur
Das stumme Drama
Einleitung von Barbara Simon-Mick
(aus "Gemeinsam”, Zeitschrift des Ausländerbeirats der Stadt Kassel, Juni 1991)

Tibet und das Abendland
Sinesierung
Tibet und die Welt Politische Unterdrückung und Folter
Geschichte Tibets Unterdrückung der Religionsausübung
Völkerrechtlicher Aspekt Zerstörung der Kultur
Ethnologischer Aspekt Bedrohte Umwelt
Situation in Tibet nach 1950 Menschen voller Hoffnung
Der Begriff "Tibet" Der Friedensplan des Dalai Lamas
Genozid


Tibet und das Abendland

Jeder kennt Tibet. Seit Jahrhunderten beschäftigt das Land auf dem "Dach der Welt” die Phantasie der Europäer. Die isolierte Lage hinter den höchsten Gebirgsketten der Welt begünstigte die Bildung von Gerüchten über Tranceläufer, Orakelpriester, wunderwirkende Asketen und Magier und trug so zur Entstehung des Mythos von dem geheimnisumwitterten, fremdartigen Land bei. Die abenteuerlichen Berichte von Sven Hedin, Alexandra David-Neel, Wilhelm Filchner und Heinrich Harrer über riesige Klosterstädte, magische Riten, lebende Buddhas und eine grandiose, überirdisch-schöne Landschaft haben die romantischen Vorstellungen von Generationen geprägt.

Dabei lag die eigentliche Faszination in der Beschreibung der tief gläubigen Menschen, deren Geschichte und individueller Alltag über den Tod hinaus von ihrer Religion durchdrungen war. Der Geborgenheit im Buddhismus und seinem Weltbild verdanken die Tibeter ihre Fröhlichkeit, ihr respektvolles und liebevolles Wesen der Natur und allem Lebenden gegenüber. Die Abgeschiedenheit begünstigte das Wachsen und Reifen einer mehr als 2000 Jahre alten einzigartigen religiös-spirituellen Hochkultur, wie sie vergleichbar nirgendwo in der Welt zu finden ist.


Tibet und die Welt

Mag die strenge Abschirmung die tiefgründige geistige Entwicklung der Menschen gefördert und die Einmaligkeit dieser in sich geschlossenen Kultur über Jahrhunderte bewahrt haben, so wurde gerade dieser Umsstand den Tibetern zum Verhängnis.1949/50 drang die chinesische Volksbefreiungsarmee auf Befehl Maos in das souveräne aber wehrlose Land ein, ohne daß diese völkerrechtswidrige Besetzung den Widerstand der Weltöffentlichkeit herausgefordert hätte. Als hingegen 40 Jahre später Saddam Hussein Kuwait überfiel, bschloß die Welt unter Führung der UNO, ihn zum Rückzug zu zwingen.

Dabei war die UNO im Falle Tibets nicht einmal völlig untätig. Die Vollversammlung verabschiedete in den Jahren 1959, 1961 und 1965 Resolutionen, in den die Invasion Tibets verurteilt und an die Volksrepublik China appelliert wurde, die Menschenrechte zu achten und das Selbstbestimmungsrecht der Tibeter wiederherzustellen. Diese Entscheidungen verfehlten jegliche Wirkung auf die Führung in Peking aber auch auf irgendein anderes Land, denn im Gegensatz zum Fall Kuwait, fand sich kein Staat bereit, auf die Respektierung der UNO-Resolutionen zu dringen. So blieb die größte gewaltsame Annexion der Nachkriegsgeschichte weitgehend unbeachtet.
Während die Volksrepublik China in Tibet Hunderttausende von Menschen umbrachte, das Land um die Hälfte verkleinerte, fast die gesamte Kultur zerstörte, die Bevölkerung unterdrückte, folterte, demütigte und entrechtete, schickte man sich an, sie als Weltmacht offiziell anzuerkennen. 1971 wurde sie in die UNO aufgenommen und erhielt einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Wirtschaftlicher Nutzen der Industrienationen und wirtschaftliche Abhängigkeit entwicklungsbedürftiger Länder sichern China großen Einfluß in der Welt. Der geht so weit, daß sich führende Politiker in traditionell demokratischen und rechtsstaatlichen Nationen, aber auch in der Bundesrepublik weigern, den Dalai Lama, Friedensnobelpreisträger von 1989, offiziell zu empfangen und die völkerrechtlich und historisch eindeutige Bewertung des Tibet-Problemes zur Kenntnis zu nehmen.


Geschichte Tibets

Schon die immer wieder strapazierte These Pekings, die leider kritiklos von den Politikern unseres Landes übernommen wird, Tibet sei ein Teil Chinas und dies schon immer gewesen, hält einer auch nur oberflächlichen Nachprüfung nicht stand. Fast 1000 Jahre lang war Tibet ein expansives Königreich, nach dessen Zerfall im 9. Jahrhundert der Buddhismus zur tragenden geistigen Kraft im Land wurde. Seit dem 13. Jahrhundert bestimmten die Mongolen für Jahrhunderte die Geschichte Tibets mit. Sie behielten sich die militärische Gewalt vor, während die Tibeter für das Religiös-Spirituelle zuständig waren, ihr Land innenpolitisch jedoch selbständig verwalteten.

Um 1440 entstand aus einer Reformbewegung der Mönchsorden der "Tugendhaften” (Gelugpa), der aufgrund seiner geistigen Disziplin zur staatstragenden Macht in Tibet aufstieg. Die großen Klöster - allen voran Drepung - entwickelten sich zu Zentren der gesamten Bildung, Kultur und Religion. Dem dritten Abt von Drepung wurde1578 von einem Mongolenfürst der Titel "Dalai Lama” verliehen, was soviel bedeutet wie "Ozean unendlicher Weisheit”. Erst der fünfte Dalai Lama /1617 - ca. 1680) übte neben der geistlichen uneingeschränkte weltliche Macht aus. Er baute den Potala.

Nach dem Niedergang des Mongolenreiches begannen die Chinesen erstmals, sich konkret für Tibet zu interessieren. 1720 vertrieb eine chinesische streitmacht, von den Tibetern um Hilfe gebeten, ülündernde Sungaren. Die Chinesen blieben jedopch und institutionalisierten ihren Einfluß durch die Einsetzung zweier kaiserlicher gesandter in Lhasa. In der geshcihtsschreibung der chinesischen Kaiserzeit wurde tibet jedoch nie als "Teil des chinesischen Mutterlandes” bzeichnet: Die Verbindung mit China war vielmehr eine Priester-Patron-Beziehung.

Gegen einen Überfall der nepalesischen Gurkhas 1855 und gegen die blutige britische Militärexpedition nach Lhasa 1903/04 kamen die Chinesen den Tibetern nicht mehr zu Hilfe, was selbstverständlich gewesen wäre, wenn sie Tibet als Teil Chinas angesehen hätten.

Nach Ausbruch der bürgerlichen Revolution in China erklärte der Dalai Lama 1913 Tibet für vollständig souverän. Er versäumte es jedoch, völkerrechtlich verbindliche diplomatische Beziehungen zu knüpfen. Stattdessen schirmte er sein Land von der Außenwelt ab und setzte ein umfangreiches soziales Reformwerk in Gang. Dieses wurde von seinem heute lebenden Nachfolger, dem 1935 geborenen 14. Dalai Lama, fortgesetzt. Viel Zeit blieb ihm aber nicht.

Nach dem Einmarsch der chinesischen Besatzungsmacht 1950 wurde die Lage der Tibeter zunehmend so unerträglich, daß es 1959 zu einem Volksaufstand kam, in dessen Verlauf der Dalai Lama flüchten mußte. Seitdem lebt er im indischen Exil und versucht von dort, auf das Schicksal seiner Landsleute Einfluß zu nehmen.


Völkerrechtlicher Aspekt

Die mit dem Thema befaßten Völkerrechtler (z.B. die Internationale Juristenkommission, Gutachten des wissenschaftlichen Fachdienstes des Deutschen Bundestages vom 12. 8. 1987) sind sich einig, daß Tibet " zum Zeitpunkt der gewaltsamen Einverleibung in den chinesischen Staatsverband ein unabhängiger Staat” war. Die Annexion war dhar rechtswidrig. Tatsächlich ausgeübte Herrschaftsgewalt vermag die Rechtswidrigkeit nicht zu heilen und die Besetzung zu legitimieren.


Ethnologischer Aspekt

Die Tibeter sind keine Chinesen. Ethnisch gehören sie zur tibeto-birmanischen Bevölkerungsgruppe. Ihre Sprache zeigt keinerlei Beziehung zum Chinesischen und gehört einer anderen Sprachfamilie an. Die tibetische Schrift ist aus der indischen Schrift entstanden. Die tibetische Religion hat sich stets am indischen Buddhismus orientiert, wie auch sämtliche kulturellen Einflüsse und Befruchtungen vom indischen Subkontinent nach Tibet drangen. Das soziale, wirtschaftliche und politische System des alten Tibet unterschied sich völlig von dem des alten China.


Die Situation in Tibet nach 1950

Mit dem Einmarsch der chinesischen Volksbefreiungsarmee begann für die Tibeter ein unsäglicher Leidensweg, wie sie ihn in ihrer Geschichte nie erlebt hatten.


Der Begriff "Tibet”

Offiziell wird heute der Begriff "Tibet” nur noch für die sogenannte "Autonome Region” die allerdings keinerlei Autonomie in unserem Sinne genießt) gebraucht. Sie umfaßt jedoch lediglich die Hälfte des 1949/50 annektierten Landes und ist erst 1965 künstlich geschaffen worden. Hier lebt nur Ein Drittel der tibetischen Bevölkerung. Zwei Drittel wohnen in der anderen Hälfte, die dem "Mutterland” eingegliedert werude. Somit ist die bevölkerungsstarke Osthälfte in der chinesischen Terminologie, die kritiklos von deutschen Politikern und Medien übernommen wird, nicht mehr als "Tibet” ausgewiesen.


Genozid

1,2 Mio. Tibeter sind chinesischem Terror durch Hungertod, Folter, Massaker, Hinrichtungen, bei Demonstrationen und Kämpfen zum Opfer gefallen. Nicht zu beziffern ist die Zahl derer, die grausamste Folter, Zwangsarbeitslager, Gefängnis und Mißhandlungen aller Art mit z. T. schweren Schäden überlebt haben. Heute sind die Attacken gegen den Bestand des tibetischen Volkes nicht weniger unerträglich. Seit 1987 werden systematische Kampagnen von Zwangssterilisationen, Zwangsabtreibungen (bis zum 9. Monat) und Tötung Neugeborener durch Injektionen und Verbrühen durchgeführt. Allein im Jahr 1989 sind nach chinesischen Angaben in der Provinz Amdo 87000 Frauen zwangssterilisiert worden. In der tibetischen Geschichte hat es niemals Überbevölkerung und Hunger gegeben.


Sinesierung

Die Überschwemmung Tibets mit chinesischen Siedlern degradiert die 6 Millionen Tibeter schon jetzt den 8 Millionen Han-Chinesen gegenüber zu einer Minderheit im eigenen Land. Offizielle Sprache auch in den Schulen ist chinesisch. Die vorzugsweise Vergabe von Arbeitsplätzen an Chinesen verdrängt die Tibeter aus ihren angestammten Berufen und Erwerbsmöglichkeiten, was Verelendung, Diskriminierung und Rassismus zur Folge hat.


Politische Unterdrückung und Folter

Wie in jedem totalitären Staat begann in Tibet mit der Okkupation die Mißachtung der elementarsten Menschenrechte. Die Bewohner der Ortschaften wurden Tag und Nacht mit Lautsprechergeplärr indoktriniert und systematisch gedemütigt. Adlige und Mönche wurden vor Pflüge gespannt und als "Reitpferde” mißbraucht. Mit Sanktionen mußte rechnen, wer Topfblumen ans Fenster stellte. Man hat die Tibeter mit Waffengewalt dazu gebracht, eigenhändig ihre Haustiere zu tören, was von buddhisten wie Mord an einem Menschen empfunden wird. Kleine Kinder zwang man, ihre Eltern zu erschießen. Männer und Frauen wurden öffentlich zu Tode gemartert, gevierteilt, verbrannt, verbrüht, die Bestialitäten sind nicht alle aufzuzählen. Besonders gelitten haben die Tibeter unter den sogenannten "Thamzings”. Die Bewohner einer Ortschaft mußten sich allabendlich nach ihrer Arbeit auf einem Platz versammeln. Einer von ihnen wurde nun gezwungen, vor allen Anwesenden Selbstbeschuldigungen auszusprechen. Ein naher Verwandter wurde genötigt, ihn für jede Selbstbezichtigung zu schlagen, zu bespucken und zu züchtigen. Waren diese Strafen nach Meinung der chinesischen Funktionäre nicht kräftig genug, wurde der Verwandte selbst geschlagen und zwar so lange, bis seine Züchtigung "angemessen” war. Friedliche Demonstranten werden bis heute mit unvorstellbarer Brutalität niedergeprügelt und niedergeschossen.


Unterdrückung der Religionsausübung

Die Religionsfreiheit - für die Tibeter so wichtig wie das tägliche Brot - besteht nur scheinbar. Zwar können die Riten in den Tempeln wieder vollzogen werden. Die einfachen Menschen müssen nicht mehr schwere Strafen fürchten für das bloße Murmeln eines Gebets oder auch nur den Besitz eines Amuletts oder gar einer Gebetsmühle. Die Verbreitung der buddhistischen Lehre jedoch, insbesondere auf wissenschaftlich-philosophischer Ebene, ist nicht erlaubt, die Ausbildung qualifizierter Lehrer untersagt. Eine kürzlich beendete "Säuberungsaktion” in den Klöstern gestattet in führenden Positionen nur noch Mönche, die den Primat der Kommunistischen Partei anerkennen. Ca. 200 Mönche haben die Klöster daraufhin verlassen, weil sie nicht mehr nur als Staffage für Touristen dienen wollen.


Zerstörung einer Kultur

Mit der brutalen Unterdrückung der Menschen ging die totale Zerstörung einher, insbesonder der Architektur, Junst und des religiösen Brauchtums. Nur 13 der 6254 Klöster haben einigermaßen unbeschadet den Vandalismus überstanden. Die vollkommene Zerstörung erfolgte bis zu 80 % vor der Kulturrevolution. Die Klöster bargen das gesamte Kunstschaffen von Jahrhunderten, aber auch die in Schriften gesammelte geistige und religiöse Tradition des Landes. Sie erfüllten die Funktionen von Universiäten, Schulen, Bibliotheken, Archiven und Kunstsammlungen.


Bedrohte Umwelt

Die Tibeter, aber auch Zoologen in aller Welt, beklagen die weitgehende Ausrottunb einer einst vielfältigen Tierwelt, die Zerstörung der Umwelt durch sinnlose Abholzung ganzer Gebirge, den rigorosen Raubbau an Bodenschätzen - allen voran Gold, Uran, Eisen, Kupfer usw. -, die Lagerung von Atommüll aus aller Welt in der unberühten Landschaft und die Verwandlung ihres friedlichen Landes in eine raketenbestückte Festung, die Süd- und Südostasien sowie Teile der Sowjetunion bedroht.


Menschen voller Hoffnung

Trotz alledem lehnen die Tibeter eine gewaltsame Lösung ihres Problems, wie man sie in Kuwait praktiziert hat, ab. Sie widerstehen dem Terror ohne Gegengewalt. Die Verwurzelung in ihrem Glauben, der sie zu tiefem Mitgefühl mit Mensch und Natur befähigt, gibt ihnen die Kraft, Unterdrückung und Folter auszuhalten, ohne zu resignieren.


Der Friedensplan des Dalai Lama

Der Dalai Lama hat einen maßvollen, realistischen Friedensplan vorgelegt. Leider ist Peking bis jetzt noch nicht darauf eingegangen. Der Plan sieht folgendes vor:

1. Umwandlung des gesamten Gebiets von Tibet in eine Friedenszone
2. Beendigung der Politik der Umsiedlung von chinesischen Volkszugehörigen, welche die Existenz der Tibeter als eigenständiges Volk bedroht
3. Respektierung der fundamentalen Menschenrechte und der demokratischen Freiheiten des tibetischen Volkes
4. Wiederherstellung und Schutz der natürlichen Umwelt Tibets und Beendigung der chinesischen Ausbeutung Tibets zum Zwecke der Herstellung von Kernwaffen und der Lagerung von radioaktivem Abfall
5. Beginn von ernsthaften Verhandlungen über den künftigen Status Tibets und die Beziehungen zwischen den Völkern Tibets und Chinas