Chinesische Beutekunst im Asiatischen Museum in Berlin

   Der Schriftsteller Franz Binder aus München – es gab mit ihm vor drei Jahren in Hamburg eine Lesung aus seinem Kailash-Buch – erlaubte uns die Veröffentlichung seines Offenen  Briefes an die Veranstalter der Ausstellung „Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern“, die die Kulturstiftung Ruhr in Essen in Zusammenarbeit mit chinesischen Behörden und Ministerien  in der Villa Hügel Essen organisierte. Die Ausstellung ist z.Zt. im Museum für Asiatische Kunst in  Berlin-Dahlem zu sehen. Sie steht unter der Schirmherrschaft des chinesischen Staatspräsidenten Hu Jintao und des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler. Wir müssen leider feststellen, dass sowohl der  Brief Franz Binders als auch die Proteste der Tibet Initiative Deutschland, der International Campaign for Tibet Deutschland, des Vereins der Tibeter in Deutschland und verschiedener Presseorgane nicht dazu geführt haben, kritische Aspekte in die Texte der Ausstellung einzufügen.

   Der Direktor des Asiatischen Museums in Berlin hält in unverbrüchlicher Treue am auferlegten Diktat des chinesischen Partners fest, nicht die militärische Besetzung und Annexion Tibets durch die Volksrepublik China zu erwähnen, nicht die Zerstörung von 6000 Klöstern und heiligen Stätten mit ihren unersetzlichen Buchbeständen, Statuen, Wandmalereien usw. anzusprechen, nicht die Flucht des XIV. Dalai Lama und seiner Regierung in der Zeittafel aufzuführen, nicht auf die schleichende Zerstörung tibetischer Kultur durch eine völkerrechtswidrige Zuwanderung chinesischer Siedler aufmerksam zu machen. Es ist geradezu unerträglich, daß deutsche Wissenschaftler nach dem Ende des 2. Weltkrieges sich dazu hergeben, einäugig und beflissen die Auflagen der chinesischen „Leihgeber“, also eines diktatorischen Regimes, zu erfüllen. Es ist kaum zu glauben, daß sich die Verantwortlichen der deutschen Kooperationspartner nicht der politischen Tragweite ihrer Aktivitäten bewußt gewesen sind.

   Es handelt sich, sehr geehrte Damen und Herren in Essen und Berlin, um Beutekunst, die den Tibetern von den Chinesen ohne Vorbehalte zurückzugeben ist. Wir möchten Ihnen mitteilen, daß Sie den  Besuchern der Ausstellung vorgaukeln, daß die tibetischen Kunstobjekte von den Klöstern und aus dem Museum des Potala in Lhasa ohne Bedenken nach Essen und Berlin „ausgeliehen“ werden konnten. Wahr ist, daß sie „gestohlen“ wurden. Die Tibeter können in ihrem von der VR China beherrschten Land über ihre „Schatzkammern“ nicht mehr frei verfügen.

   Mit der Präsentation in der Villa Hügel Essen und im Asiatischen Museum in Berlin-Dahlem legt sich die Volksrepublik China scheinheilig  und heuchlerisch ein kulturelles Mäntelchen um, das sie als Förderer der Religion und Kultur Tibets ausweist. Die Einäugigkeit des Staatlichen Museums in  Berlin ist geradezu sträflich und in keiner Weise zu billigen. Der Kultur Tibets ist ein Bärendienst erwiesen worden.

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Franz Binder

Kulturstiftung Ruhr Essen
z. Hd. Vorstand der Stiftung
Villa Hügel
45133 Essen

O F F E N E R  B R I E F

Im Oktober 2006

Betrifft: Ausstellung  “Tibet – Klöster öffnen ihre Schatzkammern“
in der Villa Hügel, Essen

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich beschäftige mich seit vielen Jahren intensiv mit Tibet und dem tibetischen Kulturkreis und habe zu diesem Thema mehrere  Bücher in verschiedenen Verlagen veröffentlicht, zuletzt eine in  Biographie S. H. des 14. Dalai Lama. Mit großem Interesse habe ich daher den Katalog der Tibet-Ausstellung in der Villa Hügel betrachtet. Welch ein schöner Band. Welch prächtiges Werk. Welch toller Druck. Welch wunderbare Exponate und welch viel versprechende Artikel.

Aber welch ein Schock, als ich auf die Zeittafel im Anhang stieß und bemerkte, dass sie im Jahr 1940 endet. Und beim Hineinlesen in die Texte feststellen mußte, dass auch dort kein Wort verloren wird über das Tibet nach diesem Jahr 1940. Kein Wort darüber, dass die herrlichen Exponate, die in der in  der Villa Hügel präsentiert werden, nur ein geringer, mehr oder weniger zufällig erhalten gebliebener Rest sind jener unermesslichen Kunstschätze Tibet, die für immer vernichtet wurden. Kein Wort über verbrannte Bibliotheken, Tausende zerstörter Klöster und Tempel, über ca. 1,2 Millionen getötete Tibeter, über Zehntausende von Flüchtlingen, über die gezielte  Auslöschung einer spirituellen Hochkultur durch die chinesischen Besatzer, eine Auslöschung, die bis zum heutigen Tag auf vielfache Weise fortschreitet. Wie ich von  Freunden hörte, welche die Ausstellung in Essen besucht haben, wird auch innerhalb der Ausstellung mit keinem Wort, keiner Schautafel, keinem Hinweis auf diese Tatsachen eingegangen.

Kann es wirklich sein, dass eine so renommierte Ausstellung dies alles einfach verschweigt?
Ist das nicht vergleichbar mit einer Ausstellung über jüdische Kunst,  bei der die Zeittafel nur bis zur Weimarer Republik reicht, um Nationalsozialismus und Holocaust auszublenden? In diesem (fiktiven, aber gar nicht so abwegigen) Fall ginge ein Aufschrei durch Deutschland, im Falle Tibets scheint man es gelassen hinzunehmen. Das Argument, es gehe ja nur um Kunst, greift hier nicht, denn die Kunst Tibets ist nicht zu trennen von dem Sturm der Vernichtung, der über sie herein brach und nur mehr Bruchstücke übrig ließ. Dies in einer solchen Ausstellung einfach auszublenden, ist ein zynischer Umgang mit dem grausamen Schicksal des tibetischen Volkes.
Ich habe in meiner Biographie des 14. Dalai Lama, die vergangenes Jahr bei dtv erschienen ist, den Satz geschrieben: „Der Genozid auf dem Dach der Welt und die Vernichtung der tibetischen Kultur gehört zu den schlimmsten Verbrechen, die das 20. Jahrhundert gesehen hat. Kann man das wirklich einfach totschweigen in einer Ausstellung über Tibet?

Es ist mir klar, dass die chinesischen  Leihgeber darauf bestehen, dass diese Aspekte der tibetischen Geschichte ausgeblendet werden. Seit Jahren  versucht China, Tibet als buddhistisches Disneyland, in dem alles in bester Ordnung ist zu vermarkten. Aber darf sich ein renommiertes deutsches Museum für solche unsäglichen Reinwaschungsversuche und das Verschweigen historischer Fakten hergeben.  Ich finde nein. Gerade ein deutsches Museum darf das nicht. Der Preis des Schweigens über schwerstes Unrecht ist auch für eine noch so schöne Ausstellung ein zu hoher Preis.

Ich habe auf meinen Reisen jene andere  Seite Tibets mit eigenen Augen gesehen, die Ruinen von Tempeln, geköpfte und zerschlagene Statuen, habe alte Mönche weinen sehen beim Anblick von historischen Fotos ihrer noch unzerstörten Klöster und Bildwerke, mußte die Fassung bewahren, als Mönche mir heimlich ihre Folternarben zeigten und so weiter und so fort. Die Kunst Tibets, die in der Villa Hügel präsentiert wird, ist unauslöschlich mit diesem Leid verbunden. Dass kein Wort darüber verloren wird, macht mich fassungslos.

Ich habe gehört, dass die Ausstellung im kommenden Jahr auch in  Berlin gezeigt werden soll. Ich bitte Sie dringend, wenigstens in der Berliner Ausstellung diese eklatante Lücke in der Ausstellung zu schließen und die historische  Wahrheit über die leidvolle Geschichte Tibets nach 1940 nicht länger zu verschweigen. Mit diesem Offenen  Brief möchte ich auch die Aufmerksamkeit der Medien und aller Tibet-Freunde auf diesen Sachverhalt lenken.

Mit freundlichen Grüßen

Franz Binder